
Die Rente mit 65 ist seit März 2007 in Deutschland Vergangenheit. Unmittelbar nach dem Frauentag beschloss der Bundestag damals die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre.
Er hätte trotzdem schon längst in Rente gehen können, was er aber nicht tat. Er hat viel zu viel zu tun, trägt er doch den größten Teil unseren Konsums, besser gesagt, rollt er ihn: der deutsche Drahtesel.
Dieses Jahr wird der Einkaufswagen 71 Jahre alt.
1949 rollte das erste Exemplar in einem deutschen Supermarkt. Die Konsumgenossenschaft Produktion Hamburg hatte 40 Wagen und 100 Handkörbe für die Eröffnung des ersten SB-Ladens in Nachkriegsdeutschland bestellt. Und die Firma Wanzl aus dem bayrischen Leipheim lieferte.
Der stapelbare Einkaufskorb mit klappbaren Bürgel war, wie der Einkaufskorb auf Rädern, eine Entwicklung von Rudolf Wanzl junior. Er hatte das 1918 von seinem gleichnamigen Vater im mährischen Giebau als Schlosserei gründete und zum Waagenbaubetrieb und Landmaschinenhandel ausgebaute Unternehmen nach der Vertreibung 1947 in Deutschland neu gegründet. 1950 erhielt er für den bis heute kaum veränderten Einkaufskorb das erste Patent. Deutschlandweit gab es zu diesem Zeitpunkt erst 20 Läden mit Selbstbedienung. 1951 wurde der erste Einkaufswagen „Concentra“ mit einem festen Korb patentiert.
Heute ist die Wanzl Metallwarenfabrik GmbH der größte Hersteller von Einkaufswagen weltweit, Jedes Jahr verlassen nach Werkangaben rund zwei Millionen Stück in einer Fülle von Größen- und Modellvariationen die Fabrikation. Es gibt für Senioren Rollatoren mit kleinem Korb, kleine Kopien der großen Vorbilder für Kinder und spezielle für Rolli-Fahrer. Bei denen werden Rolli und Einkaufswagen über eine leicht lösbare Bügelkonstruktion verbunden. Das ermöglicht synchrone Fahrbewegungen als eine Einheit und entspanntes Einkaufen. Produziert wird nicht nur in Deutschland, sondern auch in Tschechien und China. Verkauft werden die Einkaufshelfer hierzulande allerdings nicht für den einen Euro, den Kunden „investieren“ müssen, um ihn von der Kette zu lassen. Das Pfandsystem der rollenden Einkaufshelfer, im Übrigen auch eine Erfindung von Rudolf Wanzl, akzeptiert inzwischen selbst Plastikchips. Ein Vorteil im Ausland, wo es übrigens bezüglich der Körbchengröße ein Nord-Süd-Gefälle gibt. In Deutschland sind die Wagen kleiner als in Skandinavien, aber größer als in mediterranen Ländern. Kleine Wagen zeigen, dass weniger Frauen berufstätig sind und öfter einkaufen gehen können. Andererseits steht die Genügsamkeit der Japaner dem „Think Big“ der Amerikaner gegenüber. Während im Land der aufgehenden Sonne der Wagen einem kleinen Vogelnest auf Stelzen gleicht, rollen jenseits des Atlantiks 400-Liter-Karts durch die Supermarktgänge.
Dem Handel in Deutschland kosten die normalen Supermarkteinkaufswagen mit Bodenrost und Schutzliste, vier kugelgelagerten Lenkrollen mit Spezialgummibereifung, hohem Freiraum zwischen Bodenrost und Korb (passend auch für Flaschenkästen) und Kindersitz bei einer Anschaffung im Durchschnitt 150 bis 200 Euro. Spezialausführungen, zum Beispiel die für sperrige Lasten ausgelegten Transportwagen in den Baumärkten 350 Euro.
Jährlich verschwinden rund 100.000 Einkaufswagen spurlos. Manche Menschen betrachten sie als preiswerte „Mitnahmeartikel“. Der Schaden für den deutschen Einzelhandel liegt gut und gerne bei über 20 Millionen Euro.
Märkte und Einkaufszentren reden nicht gerne über Diebstähle ihrer Drahtesel, über deren Zahl oder Schadensummen. Je nach Lage und Umfeld eines Marktes kann die Diebstahlquote aber bis zu zehn Prozent betragen. Die bei einem Gewicht zwischen 15 und 30 Kilogramm vermeintlich lockenden hohen Schrottpreise – in einem Supermarktwagen sind immerhin gut 90 Meter Draht verbaut, können es nicht sein. Die Kilopreise für Mischschrott liegen bei 13 Cent. Ansonsten hält ein Einkaufswagen in der Regel acht Jahre, bis er seine letzte Fahrt zur Schmelze antritt.
Andere „Kunden“ bedienen sich das Einkaufswagen als preiswertes Taxi, um die Einkäufe oder nachts den berauschten Diskokumpel nach Hause zu bringen und „vergessen“ dann gerne das Zurückbringen des Wagens. Manche nutzen die Einkaufshilfen auch als Grill. Und für junge Leute ist das Vehikel Spielzeug und Accessoires für Mutproben oder „Wagenrennen“.
Für den Handel ist der Schwund ein zu teures Vergnügen. Deshalb gibt es bereits verschiedene Entwicklungen, die die Räder blockieren, wenn jemand unbefugt das Supermarktgrundstück mit einem Wagen verlassen will. Bei einem System werden über einen Magnetstein die Hightechräder blockiert, beim anderen mittels einer Induktionsschleife. Da beide Varianten von Wegfahrsperren mit erheblichen Kosten verbunden sind, geht die Entwicklung der Diebstahlsicherung weiter. So gibt es unter anderem einen Patent, das auf Sirenen setzt. Der Alarm verstummt erst nach dem der Wagen wieder zurück aufs Grundstück geschoben wird.
Deutschlands beliebtester Drahtesel geht nicht in Rente, die Metallvariante aber wohl langsam in den Vorruhestand. Der Handel arbeitet längst daran, den Einkaufswagen der neuen Generation zu einem rollenden Kassierer zu machen. Dafür müsste er mit intelligenten Chips ausgestattet werden und aus einem anderen Material gefertigt werden. Stahl würde das Chipsignal stören. Da Weidenruten zum einen nicht in ausreichender Menge zu Verfügung stehen, ihre Verarbeitung zu großen Wagenkörben zu arbeitsintensiv wäre und sie schnell ersetzt werden müssten, dürfte man wohl Plastik wählen. Erfahrungen gibt es, wie die quietschebunten Kinder-LKW mit Elternantrieb belegen oder solche, die wie ein Hund (Robotertechnik) seinem Herrchen, den Kunden durch den Supermarkt folgt. Ja, sogar virtuelle Einkaufswagen gibt es im www.
Übrigens, auch wenn der vierrädrige Einkaufsdrahtesel auf einem deutschen Patent beruht, als „Frühchen“ kam er bereits 1937 in den USA zur Welt. Der 1984 verstorbene Geschäftsmann Sylvan Nathan Goldman stellte in jenem Jahr einen Korb auf einen rollbaren Kindersessel. Er gilt damit als Erfinder des Einkaufswagens.