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DEM DEUTSCHEN VOLKE

Arnold Wahnschaffe
Arnold Wahnschaffe

DEM DEUTSCHEN VOLKE. 16 Meter breit ist Deutschlands bekannteste Widmung. Es gibt wohl niemand, der die drei Worte oben über dem Westportal des Reichstagsgebäudes in Berlin nicht kennt. 60 Zentimeter hoch sind die Buchstaben. Gegossen wurden sie aus zwei französischen Bronze-Kanonen, die preußische Truppen während der Befreiungskriege gegen Napoleon erbeutet hatten.

In Rottmannshagen, keine fünf Kilometer vor Stavenhagen, ruht Arnold Wahnschaffe. Sein Grab befindet sich hinter der neogotischen Kapelle auf einem separaten Teil des Friedhofes. Ein verbogener Gitterzaun mit verbogenen und teils fehlenden Feldern, der lange keine Farbe mehr gesehen hat, trennt die Familiengrabstätte Wahnschaffe vom übrigen Teil. Hüfthoch wuchert das Gras und verdeckt die Gräber von Paul und Gertrud Wahnschaffe, die 1901 in Mentone an der Côte d’Azur bzw. 1904 in Berlin starben. Während die Grabstätten des Onkels und der Tante aufgrund der zur kompletten Abdeckung verwendeten polierten schwarzen Granitplatten pompös wirken, präsentiert sich das ihres Neffen Arnold selbst als äußerst bescheiden. Doch im Gegensatz zu den wuchtigen Ruhestätten wird es gepflegt. Es trägt Blumenschmuck und ist mit feinen Kieseln aufgefüllt. Das Gras zu ihm ist runtergetrampelt und hat so einen kleinen Weg geschaffen. Arnold Wahnschaffe scheint noch häufig besucht zu werden.

Der in Westpommern geborene frühere Unterstaatssekretär, der in seiner Jugend als Schüler das Pädagogikum in Putbus auf Rügen besuchte und seine Militärzeit beim 1. Brandenburger Dragonerregiment Nr. 2 in Schwedt absolvierte, war von 1909 bis 1917 unter Kanzler Theobald von Bethmann-Hollweg Chef der Reichskanzlei. Seit dem Tod seines Vaters Philipp 1904 gehörten ihm Rottmannshagen mit Rützenfelde bei Stavenhagen sowie Rosenfelde bei Deutsch Krone (Wałcz) in Westpommern. Die Güter ließ er durch Verwalter bewirtschaften.

Die von ihm geleitete Behörde in der Berliner Wilhelmstraße 77 war vor allem für den Verkehr des Reichskanzlers mit den übrigen Reichs- und Staatsorganen verantwortlich. Das schloss auch das Geheime Zivilkabinett Kaiser Wilhelms II. ein. Im weitesten Sinne vergleichbar mit dem heutigen Bundespräsidialamt fungierte das Kabinett als eine Art Beraterstab des Staatsoberhauptes. Es hatte vor allem die Aufgabe, den Geschäftsverkehr zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler, den Reichsbehörden bzw. -ämtern sowie den im Bundesrat vertretenen, meist fürstlichen, Regierungen der einzelnen Staaten des Deutschen Reiches abzuwickeln und saß nur wenige Häuser entfernt von der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 64, im heutigen Bundeslandwirtschaftsministerium.

 

Nachdem am 9. August 1915 das Leipziger Tageblatt in einem Artikel die seit mehr als zwei Jahrzehnten fehlende Widmung am Reichstag zum Thema machte und sich dafür aussprach, dem Vorschlag des Architekten Paul Wallot zu folgen, ergriff Arnold Wahnschaffe als Chef der Reichskanzlei die Initiative und schrieb einen Brief an Rudolf von Valentini. Der im uckermärkischen Crussow bei Angermünde geborene Sohn eines Heeresoffiziers war seit 1908 Chef des Geheimen Zivilkabinetts. Die Inschrift „Dem deutschen Volke“ könne dazu beitragen, das Volk mit seinem Monarchen zu versöhnen. „Seine Majestät hatte damals Bedenken, die Anbringung unterblieb und ihre Ablehnung gab zu unliebsamen Erörterungen Anlass.“ Jetzt aber würde die Inschrift „gut wirken und Seiner Mäjestät gedankt werden“. Unter den „heutigen Verhältnissen“ sei eine nochmalige Ablehnung kaum denkbar, doch sollte man der Sache „keine große Wichtigkeit“ beilegen, sie vielmehr still erledigen. Die mit dem Kaiser abgestimmte Antwort kam prompt per Telegramm: „falls ausschmueckungskommission inschrift beschlieszt, wird kein widerspruch dagegen erhoben.“

Zwei Tage später, am 27. August, informierte Reichstagspräsident Johannes Kaempf in der Plenarsitzung die Abgeordneten: „Verheißungsvoll möge … die Inschrift klingen, die auf Anregung und direkten Antrag des Herrn Reichskanzlers, dem wir dafür Dank schuldig sind, nunmehr an diesem Haus lauten wird: Dem Deutschen Volke.“ Die Abgeordneten reagierten mit lebhaftem Beifall. 20 Jahre hatten sie um die Worte gestritten bzw. nach der Einweihung des Parlamentsgebäudes die Frage ignoriert. 20 Jahre war der Reichstag ohne Widmung geblieben.

Und der Streit war trotz kaiserlichen Segens noch längst nicht vorbei. Jetzt wurde die Frage nach der Schrift laut. Lateinische Lettern oder lieber Fraktur? Groß- oder Kleinschreibung? Als Kompromiss gestalteten der Architekt Peter Behrens und die Kalligrafin Anna Simons eine „alldeutsche Nationalschrift“, eine Kapital-Unzialen-Fraktur-Bastarda-Schrift. Zwischen der Entscheidung 1915 und der Anbringung der Buchstaben verging noch einmal mehr als ein Jahr. Am 7. Oktober 1916 wurde in der Reichskanzlei notiert: „Depot Spandau überweist Empfangsschein über die an die Firma S. A. Loevy in Berlin abgegebene Geschützbronze zur Herstellung der Buchstaben für die Inschrift am Reichstagsgebäude.“ Vom 20. bis 24. Dezember 1916 wurde die Inschrift montiert. Heiligabend war alles fertig. Im Sinne Arnold Wahnschaffes wurde die Sache still erledigt.

 

Mit dem Rücktritt von Bethmann Hollweg als Reichskanzler gab auch Arnold Wahnschaffe sein Amt im August 1917 auf. In der Zeit vom 11. Oktober bis November 1918 kehrte er noch einmal zur Vertretung kurzzeitig in die Reichskanzlei als Chef zurück. „Mit dem Scheiden der Hohenzollern ist auch über meinem Leben die Sonne untergegangen“, schrieb er in jenen Tagen. Danach reiste er auf sein Gut Rottmanshagen und widmete sich der Bewirtschaftung seines Besitzes. In Stavenhagen war Exzellenz Wahnschaffe Mitglied des Vorstandes der Zuckerfabrik und Vorsitzender des Vorstandes der Molkerei. Unterstützung fand er dabei in seinem Inspektor Schnabel, später im Oberinspektor Heinrich von Katte, der Rottmannshagen noch bis zum 6. Oktober 1945 leitete.

Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, machte sich Krebs bei Arnold Wahnschaffe bemerkbar. Ein Tumor drückte auf sein Sprachzentrum, ließ ihn Worte nicht mehr finden und sorgte für große Probleme beim Lesen und Schreiben. Besserung suchte er nach fachärztlichem Rat auf dem Semmering bei Wien. Die Bestrahlungen schienen anzuschlagen. Doch als man die Heimreise plante, kam es zu einem Rückschlag. Am 5. Februar 1941 starb er. Seine Leiche wurde nach Rottmanshagen überführt und in einem schlichten Grab beigesetzt.

 

Gut Rottmannshagen ist heute vor allem für seine Blaubeeren bekannt. Auf 21 Hektar, der größten Anbaufläche in Mecklenburg-Vorpommern, baut die Agrargesellschaft Chemnitz dort die leckeren Früchtchen an. Toni Jaschinski, Geschäftsführer des rund 2000 Hektar bewirtschaftenden Agrarbetriebes kandidierte zuletzt für den Bundestag. Für Die Linke wollte er den Wahlkreis 16 gewinnen, um spätestens bei der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages seinen Platz im Reichstagsgebäude einzunehmen, um seine Arbeit dem deutschen Volke zu widmen.