
Vielleicht war es das gute Wetter, das den deutsch-amerikanischen Maler, Grafiker und Karikaturisten Lyonel Feininger bewog, bei Burg Stargard in Cammin aus dem Zug zu steigen. Möglicherweise hatte er vom Fenster seines Abteils die Kirche wahrgenommen, die ihn aufgrund ihres spitzen Holzturmes faszinierte. Vielleicht hielt der Zug aber auch aus Gründen des Eisenbahnbetriebes und Feininger stieg aus, um sich kurz die Beine zu vertreten. Jedenfalls hielt der Künstler das Gotteshaus in einer schnell gefertigten Skizze fest. Warum auf einem vergilbten Briefumschlag und nicht in einem Skizzenbuch oder auf einem Zeichenblock? Es wird der Zufall gewesen sein, der ihm das Motiv vor Augen führte und er wird kein anderes Papier zu Hand gehabt haben als den Briefumschlag aus seiner Jacken- oder Manteltasche
Unbeantwortet bleiben muss auch die Frage, warum Lyonel Feininger im Zug saß und ob er von Berlin in Richtung Rügen fuhr oder von Rügen in Richtung Berlin? Sicher ist nur, dass der zur Gründung des Staatlichen Bauhauses als erster Bauhaus-Meister von Walter Gropius nach Weimar berufene Ausnahmekünstler dafür bekannt war reisend zu arbeiten. Dabei fertigte er zahlreiche Skizzen, auf die er bei späteren Gemälden teils mehrfach zurückgriff. Vom 16. bis 18. April weilte Feininger in Neubrandenburg, um eine der besterhaltenen mittelalterlichen Wehranlagen Deutschlands zu skizzieren. Bekannt sind seine zwischen 1923 und 1926 als Arch-Tower bezeichneten Arbeiten, die die Neubrandenburger Tore sehr expressionistisch darstellen und sie mehr erahnen als erkennen lassen. 2017 wurde auf einer Kunstauktion in München eine am 17. April 1922 gefertigte Bleistiftzeichnung Feiningers mit einem Startpreis von 4000 Euro angeboten. Sie zeigt in einer Größe von knapp 20 mal 15 Zentimetern im Stil der Camminer Kirchenskizze die alte auf das Friedländer Tor zuführende Prillwissestraße.
Silvester wurde in Ahrenshop die 16,6 mal 23,8 Zentimeter große Zeichnung einesBauernhauses auf Rügen, eine Arbeit des Meisters aus dem Jahr 1903, für 16.000 Euro verteigert.
Mindestens sechs weitere Bleistiftzeichnungen, die in der Nähe des Friedländer Tores entstanden, das alte Rathaus zeigen bzw. einen Blick vom Kloster über die Stadtmauer hin zum Fangelturm präsentieren, befinden sich in der Sammlung des Busch-Reisinger-Museums, einer Einrichtung der Universität Cambridge, Massachusetts, USA. Ein echter Schatz. Vielleicht wäre das eine Abregung für unsere städtische Kunstsammlung, eine Feiniger-Ausstellung auf die Beine zu stellen. Die Versicherungssummen dürfen bezahlbar sein bzw. sich dafür Lösungen finden.
Im Übrigen war das Bild der Camminer Kirche bei Burg Stargard im Universitätsmuseum in den Vereinigten Staaten dem pommerschen Kammin zugeordnet, wie ich bei der Arbeit an meinem 2019 erschienen Buch CAMMINer GESPRÄCHE feststellte. Dank meines Hinweises ist es jetzt an der richtigen geografischen Position zu finden. Das pommersche Cammin besuchte Feininger im Juni 1925, um dort zu arbeiten.
Das Buch CAMMINer GESPRÄCHE und weitere Bücher aus meiner Feder sind auf meiner Webseite www.meckpress.de unter dem Menüpunkt Buchladen zu finden.