
Als vom 15 bis 17. Juni 1905 „Die goldene Kugel“ und mit ihr das „Deutsche Haus“ sowie das sich daran anschließende Eckhaus mit einer Reihe von Läden brannte, wurde nicht nur das als eines der ersten Häuser gehandelte Hotel an der Nordseite des Marktes ein Raub der Flammen, sondern mit ihm auch einer der Handlungsorte des Romans „Irma “. Das Buch war damals ein Bestseller. 1904 auf den Markt gekommen, erlebte es schon ein Jahr später seine zweite Auflage. In Neubrandenburg dürfte es lange Gesprächsstoff geliefert haben. Die Leser folgten einer spannenden Liebesgeschichte zwischen Mädchen aus ihrer Stadt und einen Jungen aus dem pommerschen Stargard. Und was fast in einer Katastrophe auf dem Tollensesee geendet wäre, fand glücklicherweise in Augustabad ein Happyend.
Die Story stammt aus der Feder des 1837 in Rostock geborenen Schriftsteller Adolf [von] Willbrandt , der sein ihm zusammen mit dem Maximiliansorden vom bayerischen Märchenkönig Ludwig II. verliehenes Adelsprädikat für keine seiner Publikationen nutzte. Obwohl es sicherlich verkaufsfördernd gewesen wäre.
Adolf Wilbrandt hat ihm Laufe seines Lebens mehr als 40 Romane und Novellen verfasst, über zehn dramatische Dichtungen und Lustspiele, Gespräche und Monologe veröffentlicht, 1874 auf Drängen von Luise Reuter den Nachlass ihres verstorbenen Mannes veröffentlicht, mit dem er sogar verschwägert war. Adolf Wilbrandt schrieb ein Jahr später auch den ersten „schwulen“ Roman der deutschen Literaturgeschichte. „Fridolins heimliche Ehe“ ist zwar kein Meisterwerk, aber in der Übersetzung der US-Amerikanerin Clara Bell wurde er 1884 auch das erste literarische Dokument männlicher Liebe in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus stellt dieses Buch auch ein Zeitdokument mecklenburgischer schwuler Identität Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Als Vorlage für Fridolin wählte Wilbrandt nämlich seinen Rostocker Freund, den bisexuellen Kunsthistoriker Friedrich Eggers, der gemeinsam mit ihm nach Wien kam.
Ob der Fridolin-Roman auch eine autobiografische Verbindung zu seinem Autor hat? Adolf Wilbrandt war jedenfalls verheiratet und hatte mit seiner Frau, der Schauspielerin Auguste Baudius[H3] , auch zwei Söhne. Allerdings verließ er 1887 Wien, wo er unter sechseinhalb Jahre lang Direktor des Burgtheaters war, ohne seine Angetraute in Richtung Rostock. „Wir haben uns schmerzlos und freundschaftlich getrennt“, erklärte Adolf Wilbrandt einmal dem Literatur Viktor Klemperer. Nur selten besuchte Auguste ihren Mann an der Küste, sie wohnte dann im Hotel.
Als er 1911 starb, hob die „Wiener Abendpost“ in einem Nachruf seine besondere „Liebenswürdigkeit“ und seinen „femininen Charakter“ hervor.
Als sicher kann angenommen werden, dass ein Teil der Handlung des „Irma“-Romans auf eigener Erfahrung beruht. Das kleine Neubrandenburger Mädchen, Irma Zeising, hatte unter dem Künstlernamen Wendelstein Karriere gemacht. Sie war eine berühmte Opernsängerin geworden. Intrigen führen dazu, dass sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, nicht mehr mit der Bühne oder Konzerten zu tun haben will.
Vom Freund aus Kindertagen, dem pommerschen Lehrersohn Robert, der über Neubrandenburg seinen Weg in die Welt angetreten hat und als Doktor der Philosophie in der Redaktionsstube einer Zeitung gelandet war – Wilbrandt war Doktor der Philosophie und arbeitete als Ressortchef für die Süddeutsche Zeitung – wurde sie auf das Gut seines Ziehvaters in Mecklenburg-Strelitz eingeladen, nur wenige Kilometer vor den vier Toren Neubrandenburgs.
Während Irma auf diesem Gut dem Charme eines windigen Neffen erliegt und erst in letzter Sekunde vom in sie verliebten Robert vor dem Ertrinken im Tollensesee gerettet wird, sie im Kurhotel Augustabad wieder zu sich, in die Arme Roberts und die Kraft findet wieder zurück auf ihre Bühne zu wollen, im Gegensatz zu Willbrandts Frau. Auguste, der Star am Burgtheater, ließ sich mit 35 Jahren pensionieren, um erst mehr als zehn Jahre später in ein anderes Theater glanzvoll zurückzukehren. Der Vater der „Kameliendame“, Alexandre Dumas der Jüngere, hatte sie überredet die Rolle der „polnischen Gräfin“ in seinem gleichnamigen Stück zu übernehmen. Noch mit über 90 Jahren stand Auguste Baudius-Wilbrandt auf der Bühne.
Aus „Irma“ spricht noch etwas, was das Leben von Adolf Wilbrandt bestimmt. Heimatliebe!
„Heimath“ heißt eine seiner Novellen. Sie handelt von einem der in Italien gewesen und in seiner Heimat zurückgekehrt ist. Wie Wilbrandt selbst, der als Direktor des Burgtheaters auf einen Pensionsanspruch verzichtete, um jederzeit die Möglichkeit zu haben, den Job aufgeben zu können.
Träger der Heimatliebe ist auch Wilbrandts Irma, die immer wieder betont, das Neubrandenburg die schönste Stadt ist.
- Wir haben die schönsten Tore in Mecklenburg … mit all den Frauenfiguren oben – von denen man gar nicht weiß, was sie sind.
- Unser See ist zwei Meilen lang. Man fährt mit dem Boot, ich weiß nicht wie lang! Im Dampfschiff natürlich nicht so lang. Und ganz wunderschön ist er. Die großen Wälder. Und die Ufer sind so hoch. Und im Nemerower Holz – im Nemerower Holz – Und auf allen Wällen stehen wunderschöne Eichen; beinah rundherum. Andere Bäume auch, aber das schönste sind die Eichen; o Gott! […] In alten Zeiten wurde das ei geführt, jedes junge Ehepaar musste nach seiner Hochzeit zwei Eichen auf den Wällen pflanzen, und musste die dann auch pflegen, dass es schöne Bäume wurden.
- An dem neuen Fritz-Reuter-Denkmal vorüber, das sie wie ein erster gemütlicher Gruß der Vaterstadt gleich vor dem Bahnhof empfing, schlenderten sie zu einem der ‚besseren, vornehmen‘ Gasthöfe, wie Zeising mit einer stolzen Bewegung seiner starken Brauen sagte; denn ‚in die Goldene Kugel geh´ ich nicht, die ist nicht für unsereinen, aber wenn ich einmal wieder nach Neubrandenburg komm´ so soll man mich doch in guter Umgebung sehn. !
- Durch das schöne Treptower Doppeltor rasselten sie hinaus und dem großen See zu, den der Werderbruch von den Stadtwällen trennt .
- An dem alten Broda vorbei kamen sie zu dem waldigen Hügel, der das Belvedere trägt, einen kleinen, weithin leuchtenden, schlicht antikisierenden Bau .
- Irma Ammon stand im Gasthof zur Goldenen Kugel in Neubrandenburg am Fenster und sah über den großen Platz, in dessen Mitte das Rathaus mit dem spitzen Türmchen stand.
- Irma stand beim Ausfluss der Tollense, wo die vermietbaren Boote lagen...
- Irma saß am nächsten Morgen – es ging schon auf Mittag – in ihrem Zimmer im Augustabad. Sie wartete auf Robert, der zur Stadt gegangen war, um aus ihrer Wohnung zu holen, was sie brauchte...



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