
Nachdem der Königssohn die schöne Rapunzel aus dem Turm befreit hatte, in dem sie die Zauberin gefangen hielt, ritt der Prinz mit ihr auf sein großes elterliches Schloss.
Vor zehn Jahren entdeckte die ARD den strahlend weißen früheren Stammsitz der Grafen von Arnim im uckermärkischen Boitzenburg und wählte ihn als Kulisse für die Verfilmung eines der schönsten Märchen der Brüder Grimm. Keiner der Filmemacher dürfte geahnt haben, wie eng das imposante Schloss und weitere Herrenhäuser der Familie von Arnim rund um Boitzenburg mit der Filmvorlage und der Märchenwelt verwoben sind.
Als 1812 in Berlin das erste Märchenbuch von Jacob und Wilhelm Grimm erschien, hatten die es „Bettina von Arnim für den kleinen Johannes Freimund“ gewidmet. Bettinas Mann, ein Verwandter der Boitzenburger Grafen, hatte die Brüder zu Märchensammlern gemacht, als er mit Clemens Brentano an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeitete. Er ermutigte sie, nicht die Flinte ins Korn zu werfen, als Brentano plötzlich keinen Wert mehr auf ihre Märchensammlung legte. Achim von Arnim wurde zum engen Freund der Sprachwissenschaftler, denen er sogar persönliche Geheimnisse anvertraute. So erzählte er ihnen die Geschichte seiner heimlichen Eheschließung mit Bettina Brentano.
Das Ja-Wort gaben sich beide einen Tag nach Ablauf des Trauerjahres für Arnims Großmutter, die verfügt hatte, dass die erst die Kinder ihrer Enkel in den Genuss ihres beträchtlichen Erbes kommen sollten. Unmittelbar nach der Testamentseröffnung, hatte Achim Bettina geschrieben, „das Meinige zu tun, um rechtmäßige Kinder zu haben“. Bis dahin besaß er nur das 1804 vom Vater geerbte morbide kleine Gut Friedenfelde, keine Reitstunde vom prachtvollen Boitzenburg entfernt, „so miserabel vornehm wie eine abgetragenen rote Sammethose.“ Das Rokokoschlösschen war im Verfall begriffen. Zwei Türme samt Zimmerdecken waren gerade eingestürzt. Trotzdem versuchte der Dichter keine zwei Wochen nach der Geburt des zweiten Sohnes seine junge Ehefrau für dieses Friedenfelde und den Umzug in die Uckermark zu begeistern. „Ich glaube Du befändest Dich hier besser als in Wiepersdorf […]. Es gibt hier Cousinen, die Beethovensche Doppelsonaten spielen usw. Wenn nur das Haus gefälliger wäre.“
War es das das Gefühl, Herr zu sein auf einem Grund und Boden und nicht nur Vermögensverwalter seiner in den Kinderschuhen steckenden Söhne? Verzauberte ihn der landschaftliche Reiz, der schon seinen Vater gefangen genommen hatte, die romantische Abgeschiedenheit eines fantasieanregenden Liebesnestes?
Es könnte der hell leuchtende uckermärkische Sternenhimmel über Friedenfelde gewesen sein, der Achim von Arnim zu seiner Geschichte vom armen Mädchen inspirierte, das außer einem Stückchen Brot nichts besitzt, als es in die Welt hinaus geht und unterwegs erst das Brot, dann seine Mütze, das Leibchen und Röckchen und schließlich auch sein Hemdchen an Bedürftige verschenkt und am Ende für seine Barmherzigkeit mit einem Sternenregen goldener Taler belohnt wird. Die kleine Erzählung erschien 1812 in einer Novellen-Sammlung und kurz darauf im Märchenbuch der Grimms. Dort trägt sie seit 1819 den Titel „Die Sterntaler“.
Bettina, die Beethoven persönlich kannte und mit Goethe freundschaftlich verkehrte, wollte sich nicht auf dem Land wegsperren lassen. Sie griff wieder zu Feder und Papier. Schon vorher, als sich ihr Bruder, ihr Mann und die Grimms mit überlieferten Märchen beschäftigten, schrieb sie ihre eigenen. „Der Königssohn“, „Hans ohne Bart“ und „Die blinde Königstochter“ sollten in der „Zeitung für Einsiedler“ veröffentlicht werden. Doch da diese nach gerade einmal einem halben Jahr ihr Erscheinen einstellte, blieben die Märchen unveröffentlicht. Hundert Jahre. Ein Dornröschenschlaf.
Dafür gebar Bettina weitere fünf Kinder, starb ihr Mann, musste sie sich um dessen dichterisches Erbe kümmern, die Herausgabe seiner Werke besorgen, die Kinderschar beim Erwachsenwerden begleiten, lenken und führen und deren Erbe sichern. Die Mädchen besuchten Cousinen in der Uckermark und tanzten auf Bällen im Schloss Boitzenburg. Und sie schrieben Märchen. Gisela hatte sich 1840 mit 13 Jahren „Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ ausgedacht. Im Jahr darauf brachte Schwester Armgard ein von Schwester Maximiliane und Hermann Grimm illustriertes „Märchen zur Dämmerstunde“ heraus. Zu dem Zeitpunkt lebten de Grimms in Berlin.
Der König Friedrich Wilhelm IV. hatte die Brüder Grimm auf Drängen Bettinas in die preußische Hauptstadt berufen, nachdem sie in Hannover aus dem Staatsdienst entlassen worden und Jacob sogar des Landes verbannt worden war. In Berlin wuchs Hermann Grimm, gleich einem eigenen Kind, in Bettinas Haus in vertrautester Freundschaft mit Gisela auf. Aus Freundschaft zwischen beiden wurde Liebe, die 1859 schließlich zu einer heimlich geschlossenen Ehe führte, wie bei Achim und Bettina.
1843 brachte Wilhelm Grimm die fünfte große Auflage der mit Bruder Jacob zusammengetragenen Märchensammlung heraus, die er wiederum „Frau Bettina von Arnim“ widmete. Diesmal aber nicht nur mit zwei Zeilen, sondern einer umfangreichen Danksagung für ihre treue Freundschaft und die Hilfe ihres verstorbenen Mannes im Zusammenhang mit der Publikation der Märchen.
Wenige Monate später zog ihr Sohn Friedmund auf das geerbte Gut Blankensee in der Nähe von Boitzenburg. Gerade waren in Berlin seine „Hundert neue Märchen im Gebirge gesammelt“ aus der Druckerei gekommen. Das Buch enthielt zwar nur (die ersten) 20, aber gleich drei seiner Erzählungen fanden das Gefallen der Brüder Grimm. „Der Eisenhans“, „die Kristallkugel“ und „Stiefel von Büffelleder“ fanden Aufnahme in die nächste Auflage ihrer Märchen.
Hätte Friedmund sich weniger um das heruntergewirtschaftete Blankensee kümmern müssen, wären wohl weitere „Überlieferungen“ dort gelandet. Ein Jahr nach seinem Umzug in die Uckermark kündigte er jedenfalls seiner Mutter an, der „Giesel“ Märchen „zum Ausschmücken“ zu schicken.
Im November 1846 sandte er Bettina einen von ihr „gewünschten Pack Märchen“. Mehr ist in dieser Hinsicht über eigene Arbeiten Friedmunds nicht zu erfahren.
Der nunmehrige Gutsbesitzer musste 1849 den Ruin der Familie in Wiepersdorf abwenden. Und konnte es zum Glück aufgrund seiner hervorragenden Betriebsführung in Blankensee.
Die Märchen träumten jetzt die Schwestern weiter. Gisela veröffentlichte unter dem Pseudonym Marilla Fittchervogel „Mondkönigs Tochter“, ein „Märchen für eine Abendsunde“, dem 1848 mit „Aus den Papieren eines Spatzen“ ein „Märchen für eine Morgenstunde“ folgte. Von Armgard stammt „Das Heimelchen“, ein „Märchen zur Dämmerstunde“. Ihr Verleger war Bruder Friedmund. Der fand mit 46 Jahren seine Herzensprinzessin und baute für die junge und schöne Braut um 1860 in Blankensee ein kleines Schloss, dessen achteckiger Grundriss einer Königskrone gleicht. Heute leben dort mit Saskia Gräfin von Hahn-Burgsdorff und ihrem Mann Botho wieder waschechte Nachfahren Friedmunds. Neben einem Gutsbetrieb betreiben beide eine Ölmühle und einen Hofladen, heiraten Leute gerne bei ihnen auf Gut Blankensee. Die Fachwerkkirche, in deren Schatten einst das Liebespaar Friedmund und Caroline seine letzte Ruhe fand, bietet die perfekte Intimität.
Das imposante Filmmärchen-Schloss Boitzenburg beherbergt ein Kinder- und Jugendhotel mit dazu gehörigem Schlossrestaurant. In Achim von Arnims alten Gutshaus Friedenfelde bot Familie Nowatzki bis Ende 2019 fast 20 Jahre äußert leckeren selbstgebackenen Vollkornkuchen und Torten an. Und neben dem im erneuerten barocken Glanz strahlenden Herrenhaus von Groß Fredenwalde gibt es auf dem Gutshof ein Stallmuseum und gemütliche Ferienwohnungen.
Groß Fredenwalde?
Groß Fredenwalde gehört ebenfalls zu den „Märchen-Schlössern“ in der Uckermark. 1914 heiratete Ápád Eperjesy de Szászváros, ein direkter Nachkomme von Bettinas und Achims Tochter Maximiliane von Arnim, in das dortigem Haus ein und stellte so eine neue Verbindung der Märchen-Arnims in die verzaubernde Uckermark her.



