Aufschwung am Schienenstrang

Neubrandenburg. Nachdem 1835 mit der Fahrt der Adler zwischen Nürnberg und Führt in Deutschland das Eisenbahnzeitalter begann, brauchte es noch fast drei Jahrzehnte, bis auch in Neubrandenburg ein Zug hielt. Am 15. November 1864 weihten die Großherzoge Friedrich Franz II. aus Schwerin und Friedrich Wilhelm aus Neustrelitz in Teterow die Strecke Güstrow – Neubrandenburg ein. Mehr als drei Jahre war an dem 87,7 Kilometer langen Millionenprojekt gebaut worden, nachdem sich beide Staaten darüber auf dem Landtag 1860 geeinigt hatten. Mecklenburg-Strelitz übernahm dem Protokoll zu folge 20 Prozent der Baukosten.
Wenn dem Schweriner Landesherrn nicht so sehr an einer West-Ost-Verbindung gelegen hätte, in seinem Landesteil hielten die Dampfrösser immerhin schon seit 1846, hätte Neubrandenburg noch länger auf eine Eisenbahnanbindung warten müssen. Auf der einen Seite fehlte es an finanzkräftigen privaten Investoren, auf der anderen Seite waren die Stände nicht bereit, Landeszuschüsse zum Bau von Schienenwegen zu gewähren.
Ohne technische Revolution und einem damit verbundenen entstehenden Proletariat lebte es sich viel ruhiger. Noch bis 1840 war nachts in Neubrandenburg die Schützenzunft zur Torwache aufgezogen. Die mittelalterliche Torsperre wurde erst 1863 aufgehoben, nachdem am Ende der Stargarder Straße im Zuge des Bahnhofbaus das Eisenbahntor entstand, ein von zwei gemauerten Säulen flankierter Mauerdurchbruch.
Bis dahin gab es auch kaum Häuser außerhalb der Ringmauern. 1850 sollen es ganze zehn gewesen sein, von denen nur für vier die Bezeichnung Haus geeignet gewesen sein soll. Das andere waren bessere Gartenhäuschen.
Mit der Eröffnung der Friedrich-Franz-Eisenbahn 1864, aber vor allem der vom Berliner Gesundbrunnen nach Neubrandenburg führenden Nordbahn, die noch im gleichen Jahr bis Demmin und 1878 bis Stralsund geführt wurde, veränderte sich das Stadtbild grundlegend. Der geschäftliche Verkehr, der sich Jahrhunderte durch die Torstraßen, vor allem die Treptower Straße geführt hatte, wo sich Postamt und Posthalterei befanden, aber auch Moschs Hotel, veränderte seine Route. Aus der am Wüsten Friedhof als Sackgasse endenden Stargarder Straße wurde ab Turmstraße die Hauptverkehrsader. Das drückte sich auch darin aus, das die Eisenbahnstraße neben der Treptower Straße die erste war, die über Bürgersteige verfügte und wo ab 1867 ein Teil der 100 ersten Gaslaternen leuchteten.
Weil ein Teil der Johanniskirche, der bis dahin als Speicher genutzt wurde, bis fast an die Fassaden der gegenüberliegenden Straßenseite reichte und nur ein schmaler Durchgang blieb, musste ein Stück noch vor der Bahneröffnung abgerissen werden. 1887 stürzte die neu gezogene Wand des verkleinerten Speichers ein, was zur Sanierung der Kirche führte, die bis 1894 nach Plänen der Architekten Hartung und Schäfer erfolgte. Dabei wurde der Speicher noch weiter verkürzt. Ein in der Nähe liegender Speicher wurde 1903 in ein Wohnhaus umgebaut. Zuvor waren gegenüber der Kirche 1887 und 1888 zwei größere Geschäftshäuser für die Kaufleute Giesecke und Grewe entstanden. Sie hatten den Platz von vier kleinen Häusern eingenommen, die rechts neben der 1885 fertiggestellten Post gestanden hatten. Das Kaiserliche Postamt war ab 1883 an Stelle der „alten Regel“, der späteren Knabenvolksschule, sowie des etwas zurückversetzt liegenden Gasthofes „Zum braunen Roß“ errichtet worden.
Das erste Haus, das nach dem Bahnanschluss der Zukunft weichen musste, war das Haus des Kunstpfeifers, eines städtischen Trompeters, der morgens um 10 Uhr mit seinem Spiel vom Rathaus aus zum Bürgerfleiß mahnte und abends 10 Uhr vom Kirchturm zur friedlichen Nachtruhe blies. Es wurde 1874 verkauft und zum Hotel „Zum Erbgroßherzog“ umgebaut. Links daneben, in Richtung Wall, befand sich seit 1846 die Kleinkinderbewahranstalt, Neubrandenburgs erster Kindergarten. 1866 zog noch die Mädchenvolksschule für wenige Jahre dort ein. Nachdem sie und die Knabenvolksschule in einen Neubau in der Poststraße umgezogen waren, der auf den Grundmauern des alten ritterschaftlichen Kriminalgerichts errichtet worden war, riss man die Mädchenschule in der jetzigen Eisenbahnstraße ab und baute an gleicher Stelle das moderne Bahnhofshotel. In Nachbarschaft der neuen Schule in der Poststraße entstand 1876 die jüdische Synagoge.
Die Kleinkinderbewahranstalt erhielt 1898 ein neues Gebäude. Am 16. Oktober wurde der neogotisch wirkende Neubau in der heutigen Darrenstraße, den zwischen 90 und 100 Kinder arbeitender Frauen besuchten und für den auch die Ersparnisanstalt eine Spende von 20.000 Mark zur Verfügung stellte eingeweiht.
Sicher wäre es schön gewesen, wenn die Deutsche Bahn ihr vor dem Verkehrsausschuss des Bundestages gegebenes Versprechen gehalten und 2012 mit der Sanierung des Bahnhofes begonnen hätte. Es wäre zum 150. Eisenbahngeburtstag der Viertorestadt ein tolles Geschenk gewesen. So wurde als Präsent im Geburtstagsjahr der Sanierungsbeginn auf 2016 verschoben und mit der Ankündigung des Rückbaus des Fernbahnsteiges Neubrandenburg von der großen weiten Welt ein weiteres Stück abgekoppelt.
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