
Neubrandenburger Bäckerin geniest literarischen Weltruhm

Neubrandenburg. Den Bekanntheitsgrad einer Mudder Schulten in Neubrandenburg würde sich mit Sicherheit jeder Politiker wünschen. Es gibt wohl keinen Vier-Tore-Städter der die Mutter Courage seiner Heimatstadt nicht kennt. Mecklenburgs Nationaldichter Fritz Reuter verhalf ihr zu ihrem (literarischen Wel-) Ruhm. Der Bildhauer Wilhelm Jaeger stellte die einfache Frau aus dem Volk auf einen Denkmalsockel.
Doch die im Buch beschriebene und in Stein gehauene Szene, in der die resolute Bäckersfrau Dörchläuchting Adolph Friedrich IV. von Mecklenburg-Strelitz mitten auf dem Markt und vor dem Palais des Herzogs die Brötchenrechnung präsentiert, gab es gar nicht. Das impertinente Frauensmensch“, wie Reuter sie seinen Dörchläuchting sie bezeichnen lässt, ist Ausdruck der dichterischen Freiheit.
Die Wahrheit liest sich anders. Der ehrsame Meister selbst und nicht seine Frau schickte am 17. März 1771 eine Rechnung über 21 Taler und zwei Schilling, zusammen mit einem untertänigsten Gesuch um Begleichung, nach Neustrelitz. Jacob Hinrich Schultz, bei Reuter Bäcker Schultsch oder Christian Schultz, wollte nach gut dreieinhalb Jahren endlich das Kümmelbrot bezahlt haben, dass er von Oktober 1766 bis August 1767 auf „Ordre des Herrn Hauptmann Kahlden zur herzoglichen Tafel gebacken“ hatte. Der Hof verweigerte die Auszahlung des Betrages mit der Begründung, dass der Hauptmann (von) Kahlden nicht autorisiert gewesen sei, namens des Hofes Aufträge auszulösen. Ob der aus Woldegk stammende Bäcker, der am 10. Oktober 1755 in der Marienkirche die 28-jährige Christine Dorothea Zillmann geheiratet hatte, letztlich auf der Rechnung sitzen blieb, ist nicht belegt. Überliefert sind nur die Rechnung und das Begleitschreiben, die einmal als Leihgabe des Neustrelitzer Hauptarchiv für eine Ausstellung nach Neubrandenburg kamen und heute zur Schriftensammlung des Regionalmuseums gehören. Das sind die beiden bislang einzig bekannten Schriftstücke des Vorgangs, über den es im Staub der Akten des Landeshauptarchivs Schwerin vielleicht doch noch einen Hinweis geben mag. 1934 wurden die Neustrelitzer Archivbestände dort eingeliefert.
Die beiden Schriftstücke müssen Fritz Reuter, der von 1856 bis 1863 die sieben schaffensreichsten Jahre seines Lebens in Neubrandenburg verbrachte, irgendwie, vielleicht über den Chronisten Franz Boll, der zu seinem Freundeskreis zählte, bekannt geworden sein. Nach seinem Umzug nach Eisenach verarbeitete Mecklenburgs Goethe die Episode in seiner Humoreske „Dörchläuchting“ und schuf mit ihr das Bild der stämmigen resoluten Mudder Schulten, der einfachen Bürgerfrau, die den Mut aufbrachte sich der Obrigkeit entgegen zu stellen.
Reuterbrunnen wurde zu Mudder-Schulten-Bunnen
Die reale Christine Dorothea Schultz wurde am 14. Februar 1727 in Neubrandenburg als Tochter des Fleischermeisters Zillmann geboren. Sie 1802 starb 75-jährig. Ein Jahr hat sie ihren Mann überlebt, der mit 80 Lebensjahren das Zeitliche segnete. Das Ehepaar, das ihre Bäckerei im Haus Nr. 187 auf der Westseite des Marktes betrieb, etwa in Höhe des Eingangs zum Marktplatzcenter, starb ohne leibliche Kinder zu hinterlassen. Ein 1756 geborener Sohn war früh verschieden. Das Erbe der traten dafür zwei Pflegekinder an, die auch die Bäckerei übernahmen.
Das herzogliche Palais auf dem Markt, vor dem Fritz Reuter die berühmteste Szene seiner Erzählung platzierte, wurde erst ab 1775 gebaut. Ihm gegenüber, im Schatten des 1945 zerstörten Rathauses, fand am 31. März 1923 ein Brunnen seinen Platz, auf dessen Sockel Mudder Schulten prangt, die Dörchläuchting ihre Backwarenrechnung präsentiert.
Auftraggeber für das Denkmal war der Kaufmann Hermann Carstens, Inhaber des Modehauses H. C. Nahmacher, der es anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums stiftete. Carstens erkannte als erster Unternehmer den Wert Mudder Schultens als Werbeträgerin. Er nahm einfach Reuter beim Wort: „Schultsch, Bäcker Schultsch? De bringt uns in den Mund von frömde Lüd.“ Vom beauftragten Bildhauer Wilhelm Jaeger (1888 – 1979) wünschte er sich deshalb für seinen Reuterbrunnen ausdrücklich diese Szene.
Nur ein Jahr hatte der Bildhauer Zeit für diese große Arbeit. Aus einem 250 Zentner schweren Muschelkalk-Block aus Kirchheim bei Würzburg wurde das große Mittelteil herausgehauen und aus vier Blöcken von je einem Kubikmeter die Rohrdommeln und Hohlmuscheln aus denen das Wasser in das Brunnenbassin schießt wird bzw. rinnt. Bis auf ein Drittel musste der Naturstein abgemeißelt werden, um die achteckige Säule mit der kreisrunden Platte, auf der die Figurengruppe stehen sollte, gestalten zu können. Da der Brunnen zum gewünschten Termin nicht ganz fertig wurde, er aber zum Jubiläumstag der Firma Nahmacher aufgestellt werden sollte, nahm für die Feierlichkeiten das von Wilhelm Jaeger geformte Gipsmodell den Platz auf der Brunnensäule ein. In Anwesenheit der Bürgermeister Prieß und Bruhns sowie der Stadtverordneten wurde der Brunnen dann der Öffentlichkeit übergeben.
Im Gegensatz zum herzoglichen Palais, zum Rathaus und auch der Bäckerei Schulz überstand der Reuterbrunnen, der seit Jahrzehnten den Namen Mudder Schultens trägt, unversehrt den Zweiten Weltkrieg. Im Zuge des Wiederaufbaus der Innenstadt erhielt er einen neuen beziehungsreichen Platz auf den Wallanlagen, vis-a-vis des 1893 eingeweihten Reuter-Denkmals.
Populär bis in die Gegenwart
Neue Popularität erlangte Mudder Schulten als Ingeborg Schumacher, erste Direktorin der 1969 eröffneten Stadthalle, in das Kostüm der Bäckerin schlüpfte und sie so zu Leben erweckte. Auf vielen Veranstaltungen der Niederdeutschen Bühne verkörperte sie mit Lust und Liebe und im besten Plattdeutsch das literarische Vorbild und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Sogar von offizieller Seite wurde sie als Sympathieträgerin engagiert und warb zum Beispiel auf der Grünen Woche in Berlin für einen Besuch in ihrer Heimatstadt. Diese Rolle füllt nun Erika Pirwitz aus, die 2000 nach einer Vorstellung der Niederdeutschen Bühne im HKB angesprochen wurde, ob sie nicht bei Stadtfesten und Bürgerempfängen die Mudder Schulten geben würde. Ingeborg Schumacher war verstorben. Bei den Gelegenheitsaufritten blieb es nicht. Erika Pirwitz geleitet inzwischen seit Jahren als ausgebildete Stadtführerin als Mudder Schulten Einheimische und Gäste durch Neubrandenburg.
Ebenso große lokale Berühmtheit wie Ingeborg Schumacher als Mudder Schulten erlangte die Neubrandenburger Journalistin Jutta Schwenkler, die in der „Freien Erde“, dem Bezirksorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, unter dem Pseudonym der forschen Bürgerfrau plaudernd, augenzwinkernd und satirisch regelmäßig ihren Kommentar zu lokalen Problemen in der Viertorestadt kund tat.
Die Schulten’sche Prominenz nutzte auch der Bezirksverband der Journalisten, der ab 1980 mit Hilfe zahlreicher Zeitungsleser insgesamt neun jeweils gut 60 Seiten starke Kochbücher mit Rezepten aus Mecklenburg, Berlin, Karelien, für das Einkochen, den Winter, für Feste und Feiern, Fisch und Wild herausgab und zum alljährlichen Solidaritätsbasar der Journalisten zum Preis von 5 Mark das Heft in Stadt und Land verkaufte.
1983 erhielt dann das 1979 in Dienst gestellte jüngste Fahrgastschiff Neubrandenburgs den Namen Mudder Schultens und wurde von ihr in höchsteigener Person getauft. Der Ehre nicht genug, benannte die Stadt auf Grundlage des Beschlusses 42 der 8. Ratsversammlung vom 19. April 1979 auch eine Straße auf dem Datzeberg nach der Bäckersfrau aus Dörchläuchting, während eine zweite an Unkel Bräsig aus Reuters „Stromtid“ und eine dritte mit dem Namen „Uns Hüsung“ an des Dichters sozialkritisches Versepos „Kein Hüsung“ erinnert.
Nach der Wende entwickelte die Unternehmensgruppe Nordmann eine Produktlinie unter dem Namen Mudder Schulten, die zehn unterschiedliche Frucht- und Gemüsesäfte umfasst, die es in ganz Norddeutschland, unter anderem in den von ihr betriebenen Zisch-Getränkefachmärkten zu kaufen gibt. Und nach der Wende erhielten auch die 1986 eröffneten „Weinstuben am Wall“ den Namen unter dem sie die Familie Wichmann bekannt gemacht haben: Mudder-Schulten-Stuben.
Übrigens: Mit den Schauspielern Marlis Hirche und Oliver Dassing als Mudder und Vadder Schulten hat es das Neubrandenburger Original zusammen mit ihrem „Gemahl“ sogar auf die Bühne geschafft. Theaterkritiker bezeichnen die zwei Künstler, die lange Jahre Ensemblemitglieder des legendären Kammertheaters in Neubrandenburg waren und die heute das Feuerwerktheater „Die Pyromantiker“ in Berlin betreiben, als die „nördlichsten Ableger der Commedia d’ell arte.
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