Geburtsstunde der Oststadt schlug bereits 1959

Mit Baubeginn entstand  zweitgrößter DDR-Wohnungsbaukomplex

Gafk-Porträt-Zeichnung von Iris Grund
Stadtarchitektin Iris Grund, 1969 gezeichnet von der 1977 verstorbenen Nationalpreisträgerin Lea Grundig, Mitglied des ZK der SED.

Neubrandenburg. Die Geburtsurkunde der Oststadt trägt das Datum vom 22. April 1970. Am 100. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin legte Johannes Chemnitzer als 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED den Grundstein in der neu angelegten Harderstraße. Sie erinnerte, wie das alte Speedwaystadion am Pferdemarkt, an einen am 23. März 1951 in Neubrandenburg erschossenen Angehörigen der Seepolizei. Heute trägt die Straße den Namen Niels Stensen. Die wenigsten Anwohner der Straße wissen allerdings etwas mit dem Namen des 1638 in Dänemark geborenen Katholiken anzufangen, der von Papst Johannes Paul II. 1988 seliggesprochen wurde. Niels Stensen hat, wie Gagarin, Kopernikus, Einstein, Leibnitz oder Kepler auch nichts mit der Neubrandenburger Stadtgeschichte zu tun. Zumindest aber ist er in Mecklenburg gestorben. 1686 schloss er in Schwerin die Augen.


Tiefbauarbeiten begannen 1961

Auch wenn die Geburtsurkunde das Datum vom 22. April 1970 trägt, die Geburtsstunde der Oststadt schlug wesentlich früher. Im Zusammenhangmit der forcierten Industrialisierung des Nordens der DDR fallen erste Überlegungen  für ein Wohngebiet auf dem Höhenrücken zwischen Datzeniederung und Lindethal in das Jahr 1959. Ende 1961 wurde den Stadtverordneten ein Bebungsplan vorgelegt, der unter anderem vier Wohngruppen mit fünfgeschossiger Zeilenbebauung in Großplattenbauweise mit jeweils 3000 Bewohnern vorsah. 43 Prozent der Wohnungen sollten in Erwartung des Zuzugs junger Familien über drei Zimmer verfügen. Im Zentrum des neuen Stadtgebietes waren mehrere zehn- bis zwölfgeschossige Scheibenhochhäuser wie in der heutigen Neustrelitzer Straße geplant. Markante Punkte sollten durch 16-geschossige Punkthochhäuser betont werden.

HKB-Bau führte zum Baustopp

Wenige Monate später rückten die Tiefbauer an und begannen mit den Erdarbeiten. Die wurden aber wegen eines erhöhten Bedarfs an Tiefbauarbeiten im Neubrandenburger Umland nicht weiter fortgeführt und eingestellt. Später verzögerten der Bau des HKB und des heutigen Rathauses am Friedrich-Engels-Ring – damals Bezirksleitung der SED und Rat des Bezirkes – die Wiederaufnahme der Arbeiten, die 1966 dann endlich begannen. Inzwischen aber hatte die Zeit den Bebauungsplan von 1961 überholt. Nach einer Wohnraumzählung und eines daraus resultierenden Ministerratsbeschluss zur Korrektur des Wohnungsschlüssels zugunsten von Einraumwohnungen verschwand der 1961er Plan in den Schubladen. Jetzt sollten 17 Prozent aller Wohnungen aus Küche, Zimmer, Bad und Flur bestehen. Doch auch diese Vorgaben waren nur eine Episode in der Bauplanung. Einer Verordnung zur Verbesserung der Lebenslage von Familien mit vier und mehr Kindern von 1967 und die junge Bevölkerungsstruktur Neubrandenburgs führten zur erneuten Korrektur des Wohnraumschlüsselns. Der Anteil der Drei- und Vierzimmerwohnungen wurde auf mehr als 75 Prozent geschraubt. Der Anteil der Einzimmerwohnungen sank wieder unter zehn Prozent. Dafür stieg die prognostizierte Einwohnerzahl der Oststadt auf 16.000.

27 Hektar kleiner als geplant

Und weil im Zuge der Planungen auch das vorgesehene Bauland um 27 Hektar reduziert wurde, stieg die Einwohnerdichte von 114 Einwohnern je Hektar auf 285 an. Planungen sahen vor, die Bevölkerungsdichte auf 320 Einwohner je Hektar zu bringen, was einen Durchschnitt von 3,88 Einwohnern je Wohnung ergeben hätte. Der Stadtarchitektin Iris Dullin-Grund und ihrem Büro für Städtebau und Architektur war klar, dass dies auch Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Einrichtungen bzw. die Freiflächengestaltung haben würde. Die Oststädter vermissen noch heute so etwas wie ein Zentrum ihres Wohngebiets. Inzwischen ist es langsam im Entstehen.

Im Juni 1968 gab das Politbüro des Zentralkomitees der SED grünes Licht für den Bau der Oststadt. In der Vorlage hieß es: „Bei der Vorbereitung der Oststadt Neubrandenburg ist davon auszugehen, dass wir in zwei Jahren den zweitgrößten Wohnungsbaukomplex der Republik zu bauen beginnen.“

Häuserfront in der Neubrandenburger Niels-Stensen-Straße
In der Niels-Stensen-Straße, die früher Harderstraße heiß, wurde am 22. April 1970 der Grundstein für die Oststadt gelegt.

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