Stadt schuldet Bürgern Geld für Rathausneubau

Tausende Mark gesammelt, aber nie Gebaut

Rathaus Neubrandenburg
1966/67 wurde das heutige Rathaus als Sitz der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes erbaut.

Neubrandenburg. 2016 wird das Rathaus am Friedrich-Engels-Ring definitiv ein anderes sein als heute. Nachdem es nun nicht mehr Sitz der Neubrandenburger Stadtwerke wird, wie es sich der OB wünschte, könnte er ja einmal prüfen lassen, wie es mit einer anderen städtischen Gesellschaft aussieht. Die Neuwoges sitzt ja auch nicht gerade zentral und könnte Mieten sparen, wenn sie bei "Mutti" einzieht.

Fakt bleibt, die Mitarbeiterzahl im Rathaus schrumpft weiter. Das bereits veränderte Nutzungsspektrum wird sich weiter ändern und neben dem Anbau, der während des HKB-Umbaus der Regionalbibliothek ein temporäres Domizil bietet, werden auch mindestens zwei Etagen des 1966/67 gebauten achtgeschossigen Bürogebäudes nicht mehr gebraucht. Vielleicht wird der Anbau zurückgebaut, das heißt abgerissen, vielleicht wird er aber auch verkauft und mit neu gestalteter Zufahrt über die verlängerte Katharinenstraße, mehr Parkplätzen vor dem Haus, einer anderen Eingangssituation und eigenständigen Grünanlagen an ein anderes Unternehmen verkauft. Der OB will auch die Variante nicht ausschließen, schließlich sei das Objekt zentral gelegen.

Jetzt wird auf jeden Fall aber Geld in die Hand genommen, um die Sanierung des kompletten Rathauses zu planen.  Im Haus selbst sei zwar schon einiges gelaufen, aber was Wärmedämmung, Fenster und Fassade betrifft, herrsche seit Jahren Handlungsbedarf.  Das Haus habe einen Energieverbrauch, der nicht mehr vertretbar ist. Für das Rathausprojekt, das neben den Planungen auch die Umsetzung bis 2016 beinhaltet, sind rund 6 Millionen Euro vorgesehen.  Vielleicht wird auch über die Summe diskutiert, mit Sicherheit aber dürften die anstehenden Veränderungen – möglicher Teilabriss bzw. Verkauf oder Vermietung großer Teile – Gesprächsthema für die Neubrandenburger werden.

Palazzo Prozzo

Aber es wäre ja nicht der erste Nutzungsänderung für das 120 Meter breite Verwaltungsgebäude. Im ideologischen Ausdruckswillen der ehemaligen Bauherren bewusst überdimensioniert, war es als damaliger Palazzo Prozzo einst Sitz der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes Neubrandenburg, bis 1990 Stadtverwaltung und Stadtvertretung hier einzogen. Bis dahin befand sich das Rathaus am Busbahnhof. Ins heutige Landgericht, 1905 als Sitz der Hagelkasse (Mecklenburgische Versicherung) gebaut, waren  im Frühjahr 1950 erste Teile der Stadtverwaltung eingezogen. Einem Rechenschaftsbericht des Stadtbauamtes vom 20. Juli 1946 zufolge hatten „die Stadträte beschlossen, das durch Kriegseinwirkung zerstörte Gebäude der ehemaligen Hagelkasse zu beschlagnahmen und dieses Gebäude für Bürozwecke herzurichten“. Hintergrund, „die einzelnen Abteilungen der Stadtverwaltung [waren] noch in verschiedenen Gebäuden untergebracht“, 1949 noch in 91 (!) Wohnungen.  Die Abteilung Industrie und Gewerbeaufsicht war beispielsweise in der Heidenstraße 6 zu finden. Laut einem Protokoll vom 11. August 1947 entschlossen sich die Stadtverordneten an diesem Tag für den Kauf des Grundstücks der ehemaligen Hagelkasse von der Sach- und Personenversicherungsanstalt Mecklenburg zum Preis von 76.800 Mark in Form einer Schuldverschreibung. Am gleichen Tag soll auch die damalige „Bürgermeisterei“ als „Rathaus“ deklariert worden sein. Die erste Bürgermeisterei nach dem Krieg war in der Katharinenstraße, Ecke Berliner Straße zu finden. „Die ganze Stadtverwaltung bestand aus einem Vor- und einem Sprechzimmer“, so  Bürgermeisters Friedrich Schwarzer 1949.

Wann genau sich die Stadt von den Plänen des Wiederaufbaus des barocken Rathauses auf dem Markt verabschiedete, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Herrichtung der Hagelkasse als Rathaus war als Provisorium gedacht, wie ein Antrag des städtischen Bauausschusses vom 7. März 1947 an das Kreisbauamt zeigt, mit dem die Freigabe von Zuschüssen für den Wiederaufbau des alten Rathauses beantragt wurden. Dessen ausgebrannte Ruine stand zur 700-Jahrfeier Neubrandenburgs 1948 noch und die Stadt sammelte aus Anlass des Jubiläums Geld für den „Bau eines Rathauses“. Das belegen in Leipzig bei J. F. Jütte gedruckte Schmuckurkunden, die später als Schmierpapier im Rathaus genutzt wurden. Da ein solches ausgestelltes Dokument über 100 Mark bekannt ist, das die Nummer 78 trägt, dürften mindestens 78 Neubrandenburger Geld für den Rathausbau gegeben haben. Insgesamt 7000 Mark sollen so zusammen gekommen und auf einem Sonderkonto „Rathausneubau“  gebucht worden sein, wie aus der Dissertation von Brigitte Raschke 2005 hervorgeht. Die in Merseburg geborene Idee für eine solche Sammlung hatten die Neubrandenburger von einer Stadtbaurätetagung in Halle mitgebracht. Da in Neubrandenburg bislang kein Rathaus gebaut wurde, dürfte die Stadt dieses Geld samt Zins und Zinseszins ihren Bürgern schulden.

Schwarzbau Rathaus

1949 waren 50.000 Mark für den „Rathaus-Neubau“ in den Haushaltsplan eingestellt und am 30. Juni 1949 erfolgte auf der Stadtverordnetenversammlung noch eine Nachbewilligung von 2590 Mark Miete für die restlichen sieben Monate des Jahres. Der Ausbau der Ruine der Hagelkasse hatte sich aufgrund mangelnder Baumaterialien und Arbeitskräfte verzögert. Zum einen hatten die Neubrandenburger den Umbau ohne Baugenehmigung begonnen – die kam erst im März 1949 und wurde bereits eine Woche später mit der Verhängung eines Baustopps widerrufen – zum anderen war in der Stadt ein Architekturstreit entbrannt.  Die mit dem Wiederaufbau beauftragte Architekt Willi Timm plante eine Rekonstruktion des Hauses. Die Ruine der Hagelkasse wäre in alter Pracht mit neobarockem Turmhelm wieder entstanden. Dem gegenüber stand die Auffassung des Architekten Hermann Elvers, der das für ein modernes Verwaltungsgebäude für nicht angemessen und außerdem für zu teuer hielt.  Bis 1950 verschlag der Ausbau der Hagelkasse rund 300.000 Mark. Da die Stadt zu keinen weiteren Investitionen mehr fähig war, wurden ihr diese Baukosten von der Hauptabteilung Aufbau der Landesregierung erstattet. Und als im Frühjahr 1950 die ersten Abteilungen ins neue Rathaus zogen, was dieses erst zur Hälfte ausgebaut. Selbst 1953 war es noch nicht restlos bezugsfertig, weshalb im August noch Teile der Stadtverwaltung in das Finanzamt am Pferdemarkt verlegt wurden.

Wikipedia ändern

Heute liegt das Kellerschoss des  von 1585/88 erbauten Renaissance- und nach Stadtbränden von 1676 und 1737 als im Barockstil aufgebauten alten Rathauses umgeben von der Tiefgarage überbaut unter dem Markt. Östlich davon wurden 2006 Fundamente des bereits im 14. Jahrhundert erwähnten mittelalterlichen Rathauses freigelegt. Als „Schohus“ bekannt, war es etwa 14 m breit und 25 - 30 m lang und verfügte im Kellerbereich über massive Feldsteinmauern, die innen und außen mit Quaderdekor im Putz verziert waren. Es diente nicht nur als Verwaltungssitz, sondern  auch dem Handel. Es war ein „Schauhaus“, in dem durchziehende Kaufleute ihre Waren abladen, „stapeln“ und für einen gewissen Zeitraum zum Kauf anbieten mussten.  Archäologin Dr. Verena Hoffmann ist sich sicher, dass Neubrandenburg der Hauptmarkt des Landes Stargards mit direktem Anschluss an das europäische Fernhandelsnetz war. Bei den Grabungen entdeckte sie mit ihrem Team an der Westseite des „Schohuses“ auch Reste eines 30 mal 10 Meter großen Holzgebäudes, das schon 1255 stand und damit das wirkliche erste Rathaus war.

Die Erkenntnisse sollten Grund genug sein, den Wikipedia-Eintrag zum Rathaus Neubrandenburg endlich zu überarbeiten.  Dort wird noch immer behauptet, dass das erste Rathaus in der Friedländer Straße stand, gegenüber dem Wohnhaus Herbord von Ravens und das die Mitte des 19. Jahrhunderts abgerissene  Plattenburg an der Marienkirche, einst „rathausähnliche Aufgaben“ erfüllte.

 

Bis 1945 zierte das 1737 nach einem Stadtbrand wieder aufgebaute Rathaus den Markt, ab 1923 mit dem Fritz-Reuter-Brunnen davor.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Balcke,Joachim (Dienstag, 20 Dezember 2016 18:42)

    Verkleidet doch das hässliche Rathaus wenigstens wie das damalige Rathaus als Vorbild.Auch wenn es dann nicht die original Maße hat ,aber die Fassade würde schon was her machen. Ich bin Neubrandenburger seit 1976 und jeder schämt sich für das Ding.